Glossar
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Schwarz
Schwarz (großgeschrieben) ist keine biologische Eigenschaft, sondern eine politische Selbstbezeichnung. Sie wird von Menschen verwendet, die in weißen Mehrheitsgesellschaften als Schwarz markiert werden und dadurch systematisch Rassismus erfahren. Der Begriff betont keine Hautfarbe, sondern eine gesellschaftliche Position. Er steht für geteilte Erfahrungen von Ausgrenzung, für Widerstand, für Selbstermächtigung und für die bewusste Zurückweisung rassistischer Fremdzuschreibungen.
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In diesem Sinne ist Schwarz nicht das Gegenteil von weiß im physikalischen Sinn. Vielmehr sind Schwarz und weiß soziale Konstruktionen, die in einem globalen Machtverhältnis entstehen. Wer als nicht-weiß bezeichnet wird, wird oft automatisch als „abweichend“ markiert. Weiß bleibt dabei meist unbenannt, unauffällig und wird als Norm gesetzt. Die Selbstbezeichnung Schwarz bricht mit diesem Muster. Sie benennt eine kollektive Erfahrung und stellt ihr eine politische Haltung zur Seite. Dabei wird klar: Schwarz ist nicht die Summe einzelner Pigmente, sondern Ausdruck historischer Gewaltverhältnisse, kollektiver Widerstände und gelebter Identitäten.
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Die Verwendung von Schwarz ist vor allem außerhalb des afrikanischen Kontinents verbreitet – in Gesellschaften, die koloniale Geschichte tragen oder durch Versklavung, Segregation oder Apartheid geprägt wurden. Schwarz zu sein bedeutet hier, einer Ordnung ausgesetzt zu sein, in der rassistische Zuschreibungen alltäglich wirken. Begriffe wie farbig, „Mulatte" oder das N-Wort sind Teil dieser Geschichte und haben durchweg abwertende Bedeutungen getragen. Ihnen stellt die Selbstbezeichnung Schwarz eine klare Haltung entgegen: nicht entwertend, sondern würdigend.
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Schwarz ist keine Frage des Aussehens. Auch Menschen, die nicht als afrikanisch gelesen werden, können Schwarz sein, wenn sie die damit verbundenen Erfahrungen teilen. Das Schwarzsein ist oft tief in Familiengeschichten eingeschrieben – in die Erinnerungen an Kolonialisierung, Migration, Ausschluss und Widerstand. Es geht um Erfahrungen, die nicht an der Hautoberfläche enden. Zugleich gibt es in Schwarzen Gemeinschaften intensive Debatten über Farbton, Privilegien, Zugang und Ausschlüsse. Diskurse über Colorism und Nähe zu weiß werden hier oft ebenso verhandelt wie Fragen der Sichtbarkeit und Repräsentation.
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Schwarz ist auch kein statischer Zustand. Es gibt nicht den einen Moment, in dem jemand Schwarz ist. Vielmehr geht es darum, wann und wo Schwarzsein verhandelt wird. Schwarz ist nicht an bestimmte Körper gebunden. Es ist eine soziale Erfahrung, die in Kontexten entsteht, sich verändert und ständig neu verhandelt wird. Dabei ist wichtig zu erkennen, dass nicht alle Menschen dieselbe Geschichte oder denselben Zugang zum Schwarzsein haben. Auch innerhalb Schwarzer Gemeinschaften bestehen Unterschiede, etwa entlang von Geschlecht, Sexualität oder Herkunft. Schwarz umfasst daher viele Stimmen, viele Perspektiven, viele Realitäten.
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Die Entscheidung, sich selbst als Schwarz zu bezeichnen, ist ein politischer Akt. Sie kann Identität stiften, Zugehörigkeit schaffen und Schutzraum bieten. Sie kann aber auch eine Brücke schlagen zu anderen Kämpfen für Gerechtigkeit und Gleichberechtigung. Viele Menschen, die sich als Schwarz verstehen, beziehen sich auf die Geschichte der Versklavung und deren Folgen, auf Kolonialvergangenheit, aber auch auf eigene Kämpfe in Europa, in der Karibik, in Lateinamerika oder in den USA.
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In diesem Kontext wird auch das Recht auf Undurchsichtigkeit eingefordert. Nicht jede Identität muss völlig durchschaubar, erklärbar oder in Kategorien fassbar sein. Es geht nicht darum, alles zu wissen, sondern darum, andere in ihrer Würde anzuerkennen – auch dann, wenn uns ihre Geschichte oder Perspektive fremd bleibt. Identität entsteht durch Beziehung, durch Resonanz, durch ein Zusammenspiel verschiedener Lebenswelten.
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Schwarz ist deshalb nicht eine Farbe, sondern eine Haltung. Keine Kategorie, sondern eine Geschichte. Kein Etikett, sondern ein Ausdruck von Selbstachtung und politischem Bewusstsein.
schwul/schwuler
Der Begriff „schwul“ bezeichnet heute in der Regel Männer, die emotional, romantisch und/oder sexuell Männer begehren. Ursprünglich wurde das Wort abwertend gebraucht, vor allem als Schimpfwort gegen homosexuelle Männer. Seit den 1970er Jahren wurde es jedoch von der Schwulenbewegung als Selbstbezeichnung und politischer Kampfbegriff zurückerobert.
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Die Herkunft des Begriffs ist sprachgeschichtlich nicht eindeutig geklärt. Wahrscheinlich geht er auf das niederdeutsche „schwul“ im Sinne von „drückend heiß“ zurück. Über Assoziationen mit Begriffen wie „warm“ oder „warmer Bruder“ wurde das Wort im Rotwelschen und in Berliner Dialekten bereits im 19. Jahrhundert als Bezeichnung für homosexuelle Männer verwendet. Auch eine Verbindung zu schwüler Raumluft in Lokalen der Subkultur wurde diskutiert.
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Während „homosexuell“ häufig als klinisch oder distanziert empfunden wurde, beschreibt „schwul“ in seiner politischen Aneignung nicht nur eine sexuelle Orientierung, sondern auch eine Haltung, ein Selbstverständnis und eine kulturelle Identität. Der Begriff wurde in der BRD durch die Schwulenbewegung popularisiert und hat heute einen weitgehend neutralen bis positiven Gebrauch im öffentlichen Diskurs gefunden.
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Zugleich bleibt zu beachten: Manche Menschen bevorzugen andere Begriffe wie „queer“ oder „homosexuell“ oder lehnen jede Form von Labeling ab. Zudem wird „schwul“ in der Jugendsprache bis heute teils abwertend verwendet, was auf die fortdauernde Wirkung homofeindlicher Strukturen hinweist.
Sexismus
Sexismus bezeichnet die Abwertung, Benachteiligung oder Unterdrückung von Menschen aufgrund ihres tatsächlichen oder zugeschriebenen Geschlechts. Dabei handelt es sich nicht nur um individuelle Vorurteile, sondern um ein gesellschaftliches Machtverhältnis, das Geschlechterhierarchien herstellt und aufrechterhält.
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Sexismus äußert sich auf verschiedenen Ebenen. Dazu gehören ungleiche Bezahlung, fehlende Repräsentation, sexualisierte Gewalt, stereotype Rollenzuweisungen oder sprachliche Abwertung. Auch subtile Formen wie mansplaining, die Missachtung von Expertise oder die sexualisierte Bewertung von Auftreten gehören dazu.
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Sexistische Strukturen betreffen nicht nur Frauen. Auch nicht binäre, inter und trans Personen sind von sexistischen Ausschlüssen und Gewaltformen betroffen. Gleichzeitig profitieren in patriarchalen Gesellschaften vor allem Männer von den bestehenden Verhältnissen – oft ohne sich dessen bewusst zu sein.
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Sexismus verstößt gegen das Prinzip der Gleichwertigkeit aller Menschen. Eine diskriminierungskritische Praxis erkennt an, dass Gleichstellung nicht durch formale Gleichbehandlung erreicht wird, sondern durch die aktive Veränderung jener Strukturen, die Ungleichheit legitimieren. Sexismus zu benennen und zu bekämpfen ist eine Voraussetzung für Gerechtigkeit – nicht nur im Geschlechterverhältnis, sondern in allen gesellschaftlichen Bereichen.
Sekundärer
Autoritarismus
Sekundärer Autoritarismus beschreibt die Zustimmung zu autoritären Haltungen, Ideen und Maßnahmen in Gesellschaften, die formal demokratisch organisiert sind. Es handelt sich dabei nicht um ein aktives Streben nach Diktatur, sondern um die Bereitschaft, auf Grundrechte, Pluralität oder zivilgesellschaftliche Aushandlung zu verzichten, wenn Ordnung, Sicherheit oder nationale Einheit betont werden.
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Der Begriff verweist darauf, dass autoritäre Denk- und Handlungsmuster nicht mit dem Ende autoritärer Regime verschwinden. Sie bleiben in Institutionen, Erziehung, Sprache und Kultur erhalten – oft unbemerkt und gesellschaftlich anschlussfähig. Sekundärer Autoritarismus zeigt sich in der Idealisierung starker Führung, in Misstrauen gegenüber Minderheiten, in der Abwertung von Kritik oder Widerspruch und in der Sehnsucht nach einfachen Lösungen.
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In der politischen Praxis äußert sich sekundärer Autoritarismus zum Beispiel in Forderungen nach law and order, in der Relativierung von Menschenrechten, in der Vorstellung, Demokratie müsse „wehrhaft“ gegen bestimmte Gruppen sein, oder in der Vorstellung, abweichende Meinungen seien gefährlich statt legitim.
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Der Begriff macht deutlich, dass Demokratien nicht nur durch Angriffe von außen bedroht sind, sondern auch durch autoritäre Einstellungen in ihrer eigenen Bevölkerung. Sekundärer Autoritarismus ist deshalb kein Relikt der Vergangenheit, sondern eine Gegenwartsdiagnose. Er verlangt kritische Aufmerksamkeit, besonders dort, wo Sprache, Medien oder Politik beginnen, Kontrolle über Freiheit zu stellen.
Selbstbezeichnung
Selbstbezeichnung beschreibt den Prozess, in dem Menschen selbst definieren, wie sie benannt, verstanden und zugeordnet werden möchten. Dabei geht es nicht nur um Sprache, sondern um das Recht auf Deutungshoheit über die eigene Identität. Wer sich selbst bezeichnet, benennt aktiv Zugehörigkeit, Erfahrung und Perspektive – und widerspricht damit oft einer Fremdzuschreibung, die von außen erfolgt und mit Macht verbunden ist.
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Selbstbezeichnungen können sich auf Herkunft, Religion, Geschlecht, Sexualität, Behinderung, Klasse oder politische Identität beziehen. Sie entstehen aus biografischer Erfahrung, kollektiver Geschichte oder widerständiger Praxis. So wählen viele Menschen Begriffe wie Schwarz, Sinto, queer, behindert, jüdisch oder migrantisch nicht, weil sie sich ihnen aufgedrängt fühlen, sondern weil sie darin ihre Realität ausdrücken und zugleich eine politische Haltung markieren.
Die Trennlinie zur Fremdbezeichnung ist dabei zentral. Während Selbstbezeichnungen Ausdruck von Autonomie sind, beruhen Fremdbezeichnungen häufig auf Hierarchien, Stereotypen oder historischen Machtverhältnissen. Begriffe wie Ausländer oder „Mischling" wurden Betroffenen nie zur Wahl gestellt, sondern dienten der Kontrolle, Abwertung oder Vereinheitlichung.
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In der Awareness-Arbeit ist das Prinzip der Selbstbezeichnung ein grundlegendes ethisches und politisches Kriterium. Es bedeutet, Menschen nicht auf Zuschreibungen zu reduzieren, sondern sie beim Wort zu nehmen, wenn sie selbst sagen, wer sie sind. Selbstbezeichnung ist nicht immer eindeutig, aber sie ist unverzichtbar, wenn Respekt mehr sein soll als ein wohlmeinender Blick von außen.
Sinti
Sinti sind eine Untergruppe der europäischen Minderheit der Sinti und Roma und leben seit dem späten Mittelalter vor allem im deutschsprachigen Raum. Ihre Vorfahren stammen, wie die der Roma, ursprünglich aus dem nordwestlichen Indien. Die Sprache der Sinti heißt Sintitikes und ist ein eigenständiger Dialekt des Romanes.
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Über Jahrhunderte wurden Sinti in Europa stigmatisiert, kriminalisiert und verfolgt. Im Nationalsozialismus wurden sie registriert, deportiert und ermordet – bis zu 500.000 Sinti und Roma fielen dem Völkermord zum Opfer. Diese Verbrechen wurden lange verschwiegen. Erst durch den jahrzehntelangen Einsatz von Überlebenden wie Romani Rose erlangten Sinti gesellschaftliche Sichtbarkeit und politische Anerkennung.
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Heute sind Sinti als nationale Minderheit anerkannt. Dennoch erfahren viele weiterhin strukturellen Rassismus, oft in Form von Antiziganismus. Organisationen wie der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma kämpfen für gesellschaftliche Teilhabe, Erinnerungskultur und gegen diskriminierende Praktiken in Behörden, Schulen oder Medien.
Sinti und Roma
Sinti und Roma sind eine europäische Minderheit mit jahrhundertealter Geschichte, deren Vorfahren ursprünglich aus dem nordwestlichen Indien stammen. Sinti leben seit dem späten Mittelalter vor allem im deutschsprachigen Raum, Roma sind insbesondere in Südost- und Osteuropa beheimatet. Trotz regionaler Unterschiede teilen Sinti und Roma viele kulturelle Bezüge, etwa durch ihre Sprache Romanes, die in verschiedenen Dialekten existiert, und durch Erfahrungen von Ausgrenzung und Verfolgung.
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Ihre Geschichte in Europa ist von systematischer Diskriminierung geprägt – von der Kriminalisierung und Vertreibung im Spätmittelalter über polizeiliche Sondergesetze im 19. und 20. Jahrhundert bis hin zur systematischen Vernichtung im Nationalsozialismus. Im Holocaust wurden bis zu 500.000 Sinti und Roma ermordet. Diese Verbrechen wurden erst spät anerkannt. Auch nach 1945 erlebten viele Überlebende Ausgrenzung, Armut und institutionelles Misstrauen.
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Heute sind Sinti und Roma rechtlich als nationale Minderheit anerkannt. Sie sind überwiegend sesshaft, beruflich breit aufgestellt und Teil der europäischen Gesellschaften. Dennoch bestehen Diskriminierung, Rassismus und soziale Ausgrenzung fort – oft in Form von Antiziganismus, also struktureller Feindseligkeit gegenüber allem, was mit Sinti und Roma assoziiert wird.
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Zivilgesellschaftliche Organisationen wie der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma setzen sich seit Jahrzehnten für Anerkennung, Gerechtigkeit und Repräsentation ein. Dabei geht es nicht nur um Erinnerung, sondern auch um Gegenwart und Zukunft: um gleiche Rechte, Schutz vor Hass und Respekt gegenüber einer vielfältigen und eigenständigen Kultur, die Europa wesentlich geprägt hat.
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Viele Menschen aus der Minderheit bezeichnen sich selbst als Romnja und Sintizze– Begriffe aus dem Romanes, der gemeinsamen Sprache vieler Sinti und Roma. Sie drücken damit nicht nur ihre Zugehörigkeit, sondern auch Vielfalt und Selbstbestimmung innerhalb der Minderheit aus. Die Formulierung „Sinti und Roma“ ist eine politische Sammelbezeichnung, wird aber nicht von allen als eigene Selbstbezeichnung verwendet.
Social Justice
Social Justice bezeichnet ein politisches Konzept, das auf die umfassende Beseitigung struktureller Ungleichheit abzielt. Es geht dabei nicht nur um die gerechte Verteilung von Ressourcen, sondern um die aktive Veränderung von Machtverhältnissen, die Menschen systematisch benachteiligen. Der Begriff entstand im Kontext sozialer Bewegungen und kritischer Theorie, insbesondere in den Vereinigten Staaten, und steht für ein intersektionales Verständnis von Gerechtigkeit.
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Im Zentrum von Social Justice stehen Fragen von Rassismus, Klassismus, Sexismus, Queerfeindlichkeit, Ableismus, Kolonialismus und weiteren Formen sozialer Gewalt. Es geht darum, dass Menschen nicht nur gleiche Rechte auf dem Papier haben, sondern reale Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe, Sicherheit und Selbstbestimmung. Dabei wird betont, dass Gerechtigkeit nicht durch neutral wirkende Strukturen entsteht, sondern durch das bewusste Erkennen und Verändern von Ausschlüssen.
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Im Unterschied zur deutsch geprägten Idee sozialer Gerechtigkeit, die oft auf Umverteilung und Chancengleichheit zielt, verbindet Social Justice diese Fragen mit Empowerment, politischem Widerstand und kollektiver Organisierung. Es geht nicht nur um Ausgleich, sondern um Sichtbarkeit, Mitsprache und die Anerkennung marginalisierter Lebensrealitäten als Teil gesellschaftlicher Wahrheit.
Solidarität
Solidarität beschreibt eine Haltung der bewussten Verbundenheit mit anderen Menschen, insbesondere mit jenen, die von Ungleichheit, Diskriminierung oder Ausschluss betroffen sind. Sie bedeutet nicht nur, Verständnis oder Empathie zu zeigen, sondern sich aktiv und sichtbar für gemeinsame Interessen und gegen gesellschaftliche Ungerechtigkeit einzusetzen.
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Solidarität unterscheidet sich von Hilfe, Mitleid oder Unterstützung von außen. Sie setzt voraus, dass man sich als Teil eines größeren Zusammenhangs versteht, in dem soziale Probleme nicht nur andere betreffen, sondern Ausdruck gemeinsamer Verantwortung sind. Wer solidarisch handelt, tut dies nicht aus Gnade oder Großzügigkeit, sondern aus dem Bewusstsein, dass soziale Gerechtigkeit nicht verhandelbar ist.
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Solidarität kann bedeuten, die eigene Stimme zu nutzen, wenn andere zum Schweigen gebracht werden. Sie kann bedeuten, Privilegien zu hinterfragen, Ressourcen zu teilen oder sich in Auseinandersetzungen zu stellen, von denen man nicht unmittelbar selbst betroffen ist. Sie zeigt sich in konkretem Handeln, nicht in bloßen Absichtserklärungen.
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In diskriminierungskritischer Arbeit ist Solidarität mehr als ein ethisches Ideal. Sie ist eine politische Praxis. Sie bedeutet, sich nicht nur mit einzelnen Betroffenen zu identifizieren, sondern strukturelle Machtverhältnisse gemeinsam zu verändern.
Soziale Gerechtigkeit
Soziale Gerechtigkeit beschreibt das Ziel, gesellschaftliche Verhältnisse so zu gestalten, dass alle Menschen unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Geschlecht, ihrer sozialen Lage, ihrer Religion, ihrer sexuellen Orientierung oder anderen Merkmalen gleichwertige Möglichkeiten zur Teilhabe haben. Dabei geht es nicht nur um formale Gleichbehandlung, sondern um den Ausgleich struktureller Ungleichheiten.
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Eine Gesellschaft gilt dann als sozial gerecht, wenn Ressourcen, Chancen und Rechte nicht nach Macht, Vermögen oder Herkunft verteilt sind, sondern so, dass Menschen unter verschiedenen Bedingungen vergleichbare Möglichkeiten zur Entwicklung und Mitbestimmung erhalten. Das schließt Umverteilung ein – materiell wie symbolisch. Wer benachteiligt ist, braucht mehr als die gleiche Regel. Er oder sie braucht den konkreten Ausgleich realer Nachteile.
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Soziale Gerechtigkeit ist kein Zustand, sondern ein politischer Anspruch, der auf die Veränderung von Verhältnissen zielt. Dazu gehört, Diskriminierung nicht nur individuell, sondern strukturell zu verstehen. Es reicht nicht aus, niemanden auszuschließen. Es braucht aktive Schritte, um Hürden abzubauen, Repräsentation zu ermöglichen und Betroffene in Entscheidungen einzubeziehen.
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In der diskriminierungskritischen Arbeit bedeutet soziale Gerechtigkeit, Machtverhältnisse sichtbar zu machen und bestehende Ungleichheiten nicht nur zu benennen, sondern zu verändern. Sie ist nicht das Ergebnis von Wohlwollen, sondern das Resultat politischer Auseinandersetzung.
Soziale Herkunft
Soziale Herkunft bezeichnet nicht nur die soziale oder wirtschaftliche Ausgangssituation einer Person, sondern ist Teil eines gesellschaftlichen Machtverhältnisses. Sie umfasst Faktoren wie Einkommen, Bildungsstand der Eltern, berufliche Stellung, Wohnverhältnisse, Zugang zu Ressourcen und informelle Netzwerke. Diese Bedingungen wirken sich entscheidend auf Bildungslaufbahnen, berufliche Perspektiven, politische Teilhabe und kulturelle Anerkennung aus.
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Soziale Herkunft wird häufig als individuelles Hintergrundmerkmal behandelt. Tatsächlich handelt es sich aber um eine strukturierende Kategorie, die soziale Ungleichheit stabilisiert und reproduziert. Menschen aus einkommensarmen, nicht akademischen oder bildungsbenachteiligten Familien sind im Bildungssystem, im Kulturbetrieb und in der Politik systematisch unterrepräsentiert. Gleichzeitig sind ihre Erfahrungen, Sprachformen und Wissensbestände gesellschaftlich weniger anerkannt. Nicht nur ökonomischer Ausschluss, sondern auch symbolische Abwertung sind Teil dieses Prozesses.
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Die Rede von Chancengleichheit verschleiert oft diese strukturellen Unterschiede. Denn gleiche Regeln führen nicht zu gleichen Möglichkeiten, wenn die Startbedingungen ungleich verteilt sind. Wer in der Familie keine akademischen Vorbilder hat, wer kulturelle Codes nicht kennt oder in Armut aufwächst, trägt zusätzliche Lasten, die im System selten berücksichtigt werden.
Soziale Herkunft wirkt nicht als Ausnahme, sondern als dauerhafte Rahmung des Lebenslaufs.
In diskriminierungskritischer Arbeit bedeutet das, soziale Herkunft als eigene Form der Ungleichbehandlung ernst zu nehmen. Es reicht nicht, Benachteiligungen zu benennen. Es braucht ein Bewusstsein für Klassismus, also für die gesellschaftliche Abwertung und den Ausschluss entlang sozialer Herkunft. Ohne diesen Blick bleibt soziale Gerechtigkeit ein leeres Versprechen.
Sozialdarwinismus
Sozialdarwinismus ist eine ideologische Konstruktion, die biologische Konzepte wie „natürliche Auslese“ auf menschliche Gesellschaften überträgt. Dabei wird behauptet, dass gesellschaftlicher Erfolg oder Scheitern Ausdruck biologischer Überlegenheit oder Unterlegenheit sei. Diese Vorstellung dient dazu, soziale Ungleichheit zu rechtfertigen, etwa durch die Behauptung, Armut sei das Ergebnis von Schwäche oder mangelnder Anpassungsfähigkeit.
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Der Sozialdarwinismus wurde insbesondere im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert genutzt, um Rassismus, Kolonialismus, Eugenik und Sozialpolitik zugunsten privilegierter Gruppen zu legitimieren. Er bildete eine ideologische Grundlage für die Vorstellung, dass bestimmte Gruppen nicht förderwürdig oder nicht lebenswert seien. Auch im Nationalsozialismus spielte er eine zentrale Rolle.
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Bis heute wirken seine Grundannahmen in ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Diskursen fort. Wenn Menschen auf ihren „Marktwert“ reduziert, wenn Armut mit individuellem Versagen gleichgesetzt oder wenn Migration als Bedrohung für eine „Leistungsgesellschaft“ beschrieben wird, greifen diese Erzählungen auf sozialdarwinistisches Denken zurück – oft, ohne dass der Begriff selbst fällt.
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Ein diskriminierungskritischer Umgang mit Geschichte und Gegenwart erfordert, diese Logiken zu erkennen, zu benennen und zurückzuweisen. Denn Sozialdarwinismus ist nicht wissenschaftlich, sondern ein Machtinstrument, das Ungleichheit als Naturzustand erscheinen lässt.
Spätaussiedler
Spätaussiedler sind Personen mit deutscher Abstammung, die aus Staaten Mittel- und Osteuropas oder aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland eingewandert sind. Grundlage dafür ist das Bundesvertriebenengesetz, das Menschen deutscher Herkunft unter bestimmten Voraussetzungen ein Recht auf Aufnahme in die Bundesrepublik gewährt. Die Bezeichnung Spätaussiedler wird vor allem für diejenigen verwendet, die ab den 1950er Jahren, verstärkt aber seit den späten 1980er Jahren, nach Deutschland kamen.
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Spätaussiedler gelten rechtlich nicht als Migranten, sondern als Deutsche im Sinne des Grundgesetzes. Das bedeutet, dass sie bei der Einreise automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten, auch wenn sie oft keine Deutschkenntnisse besitzen oder kulturell nicht mit der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft sozialisiert sind. Viele von ihnen stammen aus Russland, Kasachstan, Rumänien oder Polen. Ihre Migration wird häufig nicht als klassische Einwanderung wahrgenommen, obwohl sie ähnliche Integrationsprozesse durchlaufen müssen wie andere Zugewanderte.
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Im gesellschaftlichen Diskurs wird selten thematisiert, dass auch Menschen mit diesem Hintergrund Rassismus erfahren können, etwa durch Sprachdiskriminierung, soziale Abwertung oder Ausschlüsse im Bildungssystem. Gleichzeitig genießen sie bestimmte rechtliche Vorteile gegenüber anderen migrantischen Gruppen, etwa bei der Einbürgerung oder im Aufenthaltsrecht.
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Wichtig ist, dass der Begriff Spätaussiedler eine juristische Kategorie darstellt, aber nicht zwangsläufig der Selbstbezeichnung der betroffenen Menschen entspricht. Viele lehnen den Begriff ab oder benutzen andere Bezeichnungen, wie zum Beispiel russischsprachige Deutsche, Russlanddeutsche oder einfach Deutsche. In der diskriminierungskritischen Arbeit sollte daher sensibel damit umgegangen und die jeweilige Selbstbezeichnung respektiert werden.
Stereotyp
Ein Stereotyp ist eine vereinfachte und verallgemeinernde Vorstellung über eine Gruppe von Menschen. Es handelt sich um feste Bilder oder Annahmen, die bestimmten Gruppen bestimmte Eigenschaften, Verhaltensweisen oder Rollen zuschreiben. Diese Vorstellungen sind nicht individuell begründet, sondern basieren auf gesellschaftlich verbreiteten Zuschreibungen, die sich oft aus historischen, kulturellen oder medialen Quellen speisen.
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Stereotype können sich auf viele Merkmale beziehen, zum Beispiel auf Geschlecht, Herkunft, Religion, Aussehen, Alter oder berufliche Rolle. Sie dienen häufig dazu, komplexe soziale Zusammenhänge zu vereinfachen, haben jedoch reale Folgen. Menschen, die mit einem Stereotyp belegt werden, erleben oft Ausgrenzung, Misstrauen oder unfaire Behandlung, unabhängig von ihrem tatsächlichen Verhalten oder ihrer Persönlichkeit.
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Stereotype sind nicht neutral. Sie stützen bestehende Machtverhältnisse, indem sie Unterschiede naturalisieren und Ungleichbehandlung legitimieren. Während einige Gruppen durch Stereotype systematisch benachteiligt werden, profitieren andere von den Vorteilen, die mit der als normal geltenden Position verbunden sind.
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Stereotype entfalten ihre Wirkung nicht nur in zwischenmenschlichen Begegnungen, sondern auch in institutionellen Entscheidungen, etwa bei Einstellungen, Beförderungen, Notengebung oder Sicherheitskontrollen. Wer diskriminierungskritisch arbeiten will, muss daher nicht nur die Stereotype selbst erkennen, sondern auch die sozialen Vorteile hinterfragen, die ihre Aufrechterhaltung ermöglicht.
Stereotype Threat
Stereotype Threat, auf Deutsch oft übersetzt als Bedrohung durch Stereotype, beschreibt eine Form von innerem Druck. Menschen, die zu einer gesellschaftlich benachteiligten Gruppe gehören, erleben in bestimmten Situationen die Sorge, ein bekanntes Vorurteil über ihre Gruppe zu bestätigen. Diese Sorge wirkt sich auf ihre Konzentration, Leistung und ihr Verhalten aus, obwohl niemand sie direkt beleidigen oder ausgrenzen muss.
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Ein Beispiel: Eine Frau sitzt in einer Matheprüfung. Sie weiß, dass es das Vorurteil gibt, Frauen seien in Mathematik schwächer als Männer. Auch wenn sie gut vorbereitet ist, kann diese Information ausreichen, um sie zu verunsichern. Sie will das Vorurteil nicht bestätigen, denkt zu viel darüber nach, verliert den Fokus. Am Ende schneidet sie schlechter ab, nicht wegen mangelnder Kompetenz, sondern wegen des Drucks, das Bild nicht zu erfüllen.
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Ähnliches wurde bei vielen Gruppen nachgewiesen. Schwarze Schüler in Testsituationen, Menschen mit ausländisch klingenden Namen in Bewerbungsgesprächen, queere Personen in Leistungskontexten. Die Angst, falsch eingeordnet zu werden, kann sich auf die tatsächliche Leistung auswirken.
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Bedrohung durch Stereotype ist ein stiller Effekt. Niemand muss etwas sagen. Es reicht, dass das Vorurteil im Raum steht. Deshalb ist das Konzept so wichtig für die Praxis. Es zeigt, dass gleiche Bedingungen nicht ausreichen, wenn die sozialen Spannungen mitgedacht werden müssen, die in bestimmten Räumen wirken.
Stigmatisierung
Stigmatisierung ist ein sozialer Prozess, bei dem bestimmten Personen oder Gruppen negative Merkmale zugeschrieben werden, die sie in der Gesellschaft abwerten oder isolieren. Grundlage ist die Vorstellung, dass diese Merkmale von einer als normal definierten Mehrheit abweichen. Dazu zählen zum Beispiel Armut, psychische Erkrankungen, nicht normgerechtes Verhalten, sexuelle Orientierung, Herkunft oder körperliche Besonderheiten.
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Durch Stigmatisierung werden Menschen auf ein einzelnes Merkmal reduziert. Sie gelten nicht mehr als Individuen, sondern als Träger eines Makels. Diese Abwertung hat soziale Folgen. Sie kann dazu führen, dass Betroffene ausgegrenzt, benachteiligt oder beschämt werden. In vielen Fällen beeinträchtigt Stigmatisierung den Zugang zu Bildung, Arbeit, Gesundheitsversorgung oder Teilhabe im öffentlichen Raum.
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Stigmatisierung funktioniert nicht auf der Ebene individueller Meinung allein, sondern ist Teil gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Sie wird über Sprache, Medien, institutionelle Routinen und kulturelle Normen vermittelt. Häufig bleibt der Vorgang für nicht betroffene Personen unsichtbar, weil die Kriterien für Normalität selten hinterfragt werden.
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Der Begriff ist deshalb auch in der diskriminierungskritischen Arbeit relevant. Wer Stigmatisierung abbauen will, muss nicht nur Vorurteile ansprechen, sondern auch die Strukturen verstehen, in denen bestimmte Gruppen dauerhaft negativ markiert werden.
Straight Ally
Ein Straight Ally ist eine heterosexuelle Person, die sich solidarisch an die Seite von LGBTQ+-Menschen stellt, nicht aus bloßer Sympathie, sondern im Bewusstsein struktureller Ungleichheit. Allyship meint dabei nicht das bloße Unterstützen von außen, sondern eine aktive, kontinuierliche Auseinandersetzung mit Privilegien, mit Diskriminierungsformen wie Heteronormativität und Queerfeindlichkeit, sowie mit der Frage, wie man Räume mitgestaltet - bewusst oder unbewusst.
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Ein Ally erkennt an, dass die eigene Position nicht neutral ist, sondern eingebunden in Machtverhältnisse. Daraus ergibt sich eine Verantwortung: zuzuhören, ohne sich in den Mittelpunkt zu stellen. Sichtbar zu werden, wenn es um Schutz und Widerspruch geht. Und unsichtbar zu bleiben, wenn es um Erfahrungen, Deutungshoheit oder Empowerment geht.
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Der Begriff Ally steht nicht für eine feste Identität, sondern für eine Haltung in Bewegung. Er verlangt Lernbereitschaft, Irritationsfähigkeit und die Bereitschaft, Kritik anzunehmen, besonders dann, wenn sie unbequem ist. Gerade heterosexuelle Allies sind eingeladen, sich nicht über ihren Support zu definieren, sondern über ihr Handeln in Situationen, in denen Schweigen Zustimmung bedeutet. Allyship bedeutet nicht, für andere zu sprechen, sondern dafür zu sorgen, dass sie selbst sprechen können, ohne unterbrochen oder delegitimiert zu werden.
Struktureller Rassismus
Struktureller Rassismus beschreibt die systematische Benachteiligung rassifizierter Gruppen durch gesellschaftliche Strukturen, Institutionen und Prozesse. Er entsteht nicht durch individuelles Fehlverhalten, sondern durch historisch gewachsene Machtverhältnisse, die sich in Gesetzen, Verwaltungspraktiken, Bildungssystemen, Arbeitsmärkten, Medien und alltäglichen Routinen niederschlagen. Die Effekte sind kumulativ, nicht punktuell.
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Struktureller Rassismus ist deshalb besonders wirksam, weil er unabhängig von individuellen Absichten funktioniert. Es handelt sich um Ungleichheiten, die durch scheinbar neutrale Verfahren entstehen, aber rassifizierte Gruppen konsistent benachteiligen. Diese Ungleichheiten betreffen unter anderem den Zugang zu Wohnraum, Bildung, Arbeit, politischer Repräsentation, Gesundheitsversorgung und Rechtsschutz.
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In der Forschung wird struktureller Rassismus als Form institutionalisierter Ungleichheit verstanden, die auf der Reproduktion historischer Hierarchien basiert. Dazu gehören die Kolonialgeschichte, der Nationalsozialismus, migrationspolitische Rahmungen und nationale Zugehörigkeitsdiskurse, in denen weiße Positionen als unmarkiert und universell gelten, während nicht-weiße Positionen als Abweichung konstruiert werden.
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Struktureller Rassismus lässt sich empirisch nachweisen, etwa durch Studien zu ethnischer Diskriminierung auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt, durch Daten zur Bildungsungleichheit, durch Analysen zu Racial Profiling oder durch Diskursanalysen zur Darstellung rassifizierter Gruppen in Medien und Politik.
Stunde Null
Stunde Null bezeichnet die Vorstellung eines radikalen Neuanfangs. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde der Begriff in Westdeutschland populär, um das Jahr 1945 als Wendepunkt zu markieren, als Zeitpunkt, an dem ein neues, demokratisches Deutschland entstehen sollte. Die Metapher suggeriert: Alles beginnt bei null. Ein kompletter Reset, ein moralischer Neuanfang.
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Doch diese Erzählung ist trügerisch. Zwar lagen Städte in Trümmern, das politische System war gestürzt, viele Institutionen aufgelöst. Aber ideologische Kontinuitäten blieben bestehen. Alte Eliten behielten ihre Positionen, ehemalige Nationalsozialisten wurden Richter, Lehrer, Ministerialbeamte. Antisemitismus und Rassismus verschwanden nicht, sie wechselten nur die Sprache. Aus offener Hetze wurde Schweigen. Aus nationalsozialistischer Überzeugung wurde Nachkriegsamnesie. Die Stunde Null war nicht null, sie war ein Übergang mit gedämpfter Erinnerung und verschobener Verantwortung.
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Besonders für Jüdinnen und Juden, für Sintizze und Romnja, für Schwarze Deutsche oder Menschen aus den besetzten Gebieten bedeutete 1945 nicht Sicherheit, nicht Anerkennung, nicht Gerechtigkeit. Vieles blieb ungesühnt, unbenannt, ungehört.
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Obwohl die Stunde Null als gesamtdeutsche Metapher verwendet wurde, beschreibt sie in ihrer politischen Wirkung vor allem die westdeutsche Erzählung eines Neuanfangs ohne Vergangenheit. In der Bundesrepublik diente sie als strategische Leerstelle: Wer von null spricht, muss nicht erklären, woher er kommt. Diese Rhetorik ließ nicht nur personelle NS-Kontinuitäten unangetastet, sondern auch koloniale Erbschaften. Denn der deutsche Kolonialismus, der bereits vor dem Nationalsozialismus auf Vernichtung, Rassenideologie und Hierarchisierung gebaut war, wurde 1945 weder aufgearbeitet noch erinnerungskulturell integriert.
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Rassismus gegen Schwarze Menschen, Sintizze und Romnja, Jüdinnen und Juden oder migrantische Arbeitskräfte war auch nach der sogenannten Stunde Null kein Randphänomen, sondern tief verankert, im Schulbuch, im Alltagsdiskurs, in Behördenentscheidungen. In der frühen Bundesrepublik wurde der neue Rassismus modernisiert: Er verzichtete auf Rassenlehre, hielt aber an kulturellen Hierarchien, Assimilationserwartungen und Ausschlusslogiken fest. Die abwertende Erzählung über „Fremde“, „Rückständige“ oder „Nicht-Zugehörige“ blieb erhalten, sie wechselte nur die Tonlage.
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Im Osten Deutschlands wurde die Stunde Null ideologisch anders erzählt. Die DDR definierte sich als expliziter Gegenentwurf zum faschistischen Staat. In dieser Erzählung war der Nationalsozialismus ein rein westliches, kapitalistisches Problem, in der eigenen Gesellschaft galt er als überwunden. Diese Perspektive führte zu einer frühzeitigen Entfernung zahlreicher NS-belasteter Eliten, etwa in Justiz und Verwaltung. Doch der Preis dafür war ein staatlich verordneter Antifaschismus, der weder Antisemitismus noch Rassismus als strukturelle Probleme im eigenen Land anerkannte. Die Shoah war offiziell Teil des antifaschistischen Gedenkens, aber Jüdinnen und Juden wurden kaum als Subjekte eigener Erfahrung sichtbar gemacht. Antisemitismus galt als „westliches Relikt“, obwohl er auch in der DDR vorhanden war, etwa in der Kulturpolitik, in der Justiz und in antisemitischen Vorfällen nach 1967.
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Rassismus gegenüber Vertragsarbeiter*innen aus Mosambik, Vietnam oder Angola war in der DDR allgegenwärtig, wurde aber nicht als solcher benannt. Betroffene lebten in kontrollierten Wohnheimen, hatten kaum Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe und wurden nach 1989 häufig gewaltsam angegriffen, ohne ausreichenden staatlichen Schutz.
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So zeigt sich: Die sogenannte Stunde Null hat weder im Westen noch im Osten ein Ende rassistischer, antisemitischer oder nationalistischer Strukturen markiert. Sie war eine symbolische Markierung, keine strukturelle Zäsur. Der Unterschied bestand weniger im Fortbestehen von Ausgrenzung, sondern in der Art, wie sie benannt, geleugnet oder ideologisch verarbeitet wurde.
Sunken Place
(dt. "versunkener Ort")
Sunken Place ist ein Begriff aus dem Film „Get Out“ von Jordan Peele. Er bezeichnet dort den Zustand, in dem die Schwarze Hauptfigur in den eigenen Körper hinabgesogen wird, während andere über ihn verfügen. Er sieht, was passiert, aber er kann nicht eingreifen. Er schreit, aber niemand hört ihn. Dieses Bild ist mehr als ein filmisches Stilmittel. Es ist eine radikale Metapher für das Gefühl, in einer rassistisch strukturierten Welt entmachtet, entkoppelt, ausgeblendet zu werden.
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Im rassismuskritischen Diskurs steht der Sunken Place für das Verstummen im Angesicht struktureller Gewalt. Für die Erfahrung, dass man zwar körperlich anwesend ist, aber gesellschaftlich ausgelöscht wird. Dass man sieht, versteht, analysiert – aber nicht durchdringt. Dass man spricht, aber die Worte in einem Raum verhallen, der nie für die eigene Perspektive gebaut wurde. Der Sunken Place ist nicht immer spektakulär. Manchmal ist er höflich, professionell, akademisch. Er versteckt sich in Meetings, Gremien, Redaktionen, Schulen, Verwaltungen.
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Wer im Sunken Place ist, zweifelt nicht am eigenen Verstand, sondern an der Welt um sich. Und genau das ist seine Macht. Der Sunken Place ist kein Ort im Film. Er ist eine Realität, die Betroffene jeden Tag verlassen müssen – nur um am nächsten Tag erneut dorthin gestoßen zu werden.
Superdiversität
Superdiversität ist ein Konzept aus der Migrations- und Diversitätsforschung, das beschreibt, wie sich gesellschaftliche Vielfalt seit den 1990er Jahren verändert und ausdifferenziert hat. Geprägt wurde der Begriff vom britischen Soziologen Steven Vertovec im Jahr 2007. Er stellt fest, dass frühere Kategorien wie Herkunftsland oder Nationalität zu grob sind, um heutige soziale Realitäten angemessen zu erfassen.
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Superdiversität geht davon aus, dass sich Migrationsbewegungen, rechtliche Rahmenbedingungen, soziale Ungleichheiten und kulturelle Zugehörigkeiten immer stärker überlagern. Es geht also nicht nur darum, dass es viele unterschiedliche Menschen in einer Gesellschaft gibt, sondern auch darum, wie komplex und dynamisch diese Vielfalt geworden ist. Faktoren wie Aufenthaltsstatus, Religion, Bildung, Sprachkenntnisse, Stadtteil, Geschlechtsidentität, familiäre Situation oder Arbeitsverhältnisse greifen ineinander und prägen individuelle Lebenslagen auf unterschiedliche Weise.
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Das Konzept fordert dazu auf, sich von vereinfachenden Gruppenbildern zu lösen und stattdessen mit differenzierten Perspektiven auf gesellschaftliche Teilhabe, Repräsentation und Diskriminierung zu blicken. Es hilft dabei, innerhalb von sogenannten Gruppen Unterschiede zu erkennen und Übergänge, Brüche oder Zwischentöne wahrzunehmen.
symbolische Macht
Symbolische Macht ist die Fähigkeit, Bedeutungen so zu setzen, dass sie als selbstverständlich gelten. Sie wirkt nicht durch offensichtliche Gewalt, sondern durch alltägliche Deutungsmuster. Wer über symbolische Macht verfügt, bestimmt, was als normal gilt, was als Abweichung gilt, was als vernünftig erscheint und was als irrational abgetan wird. Diese Macht zeigt sich in Sprache, in Bildern, in Routinen, in dem, was unausgesprochen als Konsens gilt. Besonders perfide ist, dass sie selten als Macht erkannt wird. Sie tritt auf als Sachlichkeit, als Erfahrung, als gesunder Menschenverstand.
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Ein Beispiel für symbolische Macht findet sich in der Altersdiskriminierung. Wenn ältere Menschen auf dem Arbeitsmarkt routinemäßig übersehen werden, weil ihnen pauschal technische Inkompetenz, mangelnde Innovationsfähigkeit oder geringere Belastbarkeit zugeschrieben wird, handelt es sich nicht nur um Vorurteile. Es handelt sich um eine gesellschaftlich wirkmächtige Erzählung, die in Stellenausschreibungen, Leitbildern und Meetingkulturen mittransportiert wird. Der Ausschluss wird dadurch legitimiert, dass er nicht als Diskriminierung erscheint, sondern als Effizienz oder Modernität.
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Symbolische Macht wirkt dadurch, dass sie Deutungshoheit schafft. Sie entscheidet, wer gehört wird, wessen Perspektive als relevant gilt und wessen Erfahrungen als übertrieben oder als Einzelfall abgetan werden. Gerade weil sie unsichtbar und unmarkiert bleibt, ist sie so stabil. In einer altersdiskriminierenden Gesellschaft entscheidet nicht die Kompetenz der Älteren darüber, ob sie mitgestalten dürfen, sondern die Vorstellung der Jüngeren davon, wie Zukunftsfähigkeit aussieht.
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Symbolische Macht ist wie die Beleuchtung einer Bühne. Sie lenkt den Blick, sie macht bestimmte Personen sichtbar, während andere im Schatten bleiben – nicht weil sie nichts zu sagen hätten, sondern weil niemand ihnen das Licht anmacht.
Systemische
Diskriminierung
Systemische Diskriminierung ist kein Randphänomen, sondern das Ergebnis historisch gewachsener und gesellschaftlich tief verankerter Machtverhältnisse. Sie zeigt sich nicht in erster Linie durch offene Anfeindung oder individuelle Vorurteile, sondern durch scheinbar neutrale Strukturen, die diskriminierende Wirkungen entfalten – über Jahrzehnte hinweg, oft unbeabsichtigt, aber keineswegs folgenlos. Es sind die Spielregeln des Zusammenlebens selbst, die bestimmte Gruppen strukturell benachteiligen: etwa People of Color, Menschen mit Behinderung, queere Personen, Menschen aus armen Familien oder mit nicht-akademischem Hintergrund.
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Systemische Diskriminierung funktioniert durch Verwaltungsprozesse, die bestimmte Familien systematisch aus dem Bildungssystem drängen. Durch Auswahlverfahren, die „kulturelle Passung“ über Qualifikation stellen. Durch Gesetze, die zwar neutral formuliert sind, aber bestimmte Gruppen in der Praxis härter treffen. Durch Medienbilder, die Stereotype bedienen. Und durch „unsichtbare“ Standards, etwa Sprachcodes oder implizite Erwartungen, die marginalisierte Gruppen immer wieder in eine Defizitrolle drängen. Es genügt daher nicht, Diskriminierung im Verhalten Einzelner zu suchen – sie ist in den Grundrissen unserer Institutionen eingemauert. Solange wir nur an Symptomen arbeiten, bleibt das Fundament unangetastet.