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AutorenbildErcan Carikci

Kontrolle, Rassismus und gesellschaftliche Dynamiken: Warum Aktionismus keine nachhaltige Antwort auf Migration ist

Kaum ein Thema prägt das 21. Jahrhundert so stark wie die Migrationsdebatte. Migration ist nicht nur ein soziales Phänomen, Völkerwanderungen stellen Gesellschaften vor komplexe Fragen der Identität, Macht und Verantwortung. Angesichts wachsender globaler Migration reagieren viele Staaten mit Aktionismus: verschärfte Grenzkontrollen, strengere Migrationsgesetze und schnellere Abschiebungen. Doch greifen diese reaktiven Maßnahmen nicht zu kurz? Dieser Text argumentiert, dass nachhaltige Lösungen für Migration nicht in der Kontrolle und im Aktionismus liegen, sondern in einer tiefgreifenden Auseinandersetzung mit den zugrunde liegenden strukturellen Problemen: Rassismus, Machtverhältnisse und globaler Verantwortung.


Kontrolle und Unsicherheit


Kontrolle ist oft die erste Reaktion auf das Unbekannte. In der Migrationsdebatte zeigt sich dies in Maßnahmen, die darauf abzielen, Grenzen zu schließen und die Ankunft von Migrant*innen zu begrenzen. Doch Kontrolle ist selten eine Lösung für tiefgreifende gesellschaftliche Herausforderungen. Sie beruhigt lediglich die Oberfläche, ohne die tatsächlichen Ursachen wie tiefere Angst und Unsicherheit anzusprechen, die in den Gesellschaften der Aufnahmeländer existieren.


Der französische Denker Michel Foucault bietet hier interessante Einsichten. Foucault

argumentierte, dass Macht nicht nur repressiv, sondern auch produktiv ist: Staaten schaffen durch Kontrolle nicht nur Ordnung, sondern auch Identitäten. In der Migrationspolitik entscheidet das Grenzregime nicht nur über Bewegungsfreiheit, sondern auch darüber, wer als Teil der Gesellschaft betrachtet wird und wer ausgeschlossen bleibt. Kontrolle von Migration wird somit weniger zur Sicherheitsfrage, sondern zu einer Machtdemonstration, die festlegt, wer Teil des „Wir“ ist und wer ausgeschlossen bleibt.


Rassismus: Ein Erbe kolonialer Strukturen


Rassismus ist in der Migrationsdebatte allgegenwärtig und tief in den gesellschaftlichen Strukturen verankert. Migration wird oft als Bedrohung für nationale Identität und wirtschaftliches Wohlergehen dargestellt, wobei besonders Migrant*innen aus dem Globalen Süden stigmatisiert werden. Diese Mechanismen sind nicht neu – sie sind das Erbe eines kolonialen Denkens, das Europa und den Westen seit Jahrhunderten prägt.


Der antikoloniale Denker Frantz Fanon hat dieses Erbe eindrucksvoll beschrieben. In seinen

Werken analysierte er, wie koloniale Machtstrukturen fortbestehen und systemischen Rassismus hervorrufen. Rassismus zeigt sich nicht nur in individuellen Vorurteilen, sondern auch in Institutionen und sozialen Praktiken, die Migrant*innen ausschließen und benachteiligen. Fanons Schriften betonen, dass Rassismus eine strukturelle Dimension besitzt, die nur durch eine radikale Neugestaltung der Gesellschaft überwunden werden kann.


Ein konkretes Beispiel findet sich in der französischen Kolonialgeschichte. Auch heute noch prägen koloniale Erbschaften den gesellschaftlichen Diskurs über „die Anderen“. Migrant*innen werden häufig zu Objekten von Angst und Misstrauen gemacht. Es ist entscheidend, Rassismus nicht nur als individuelles Vorurteil zu bekämpfen, sondern als strukturelles Problem zu verstehen, das tief in die Institutionen unserer Gesellschaft eingebettet ist.


Aktionismus: Eine unzureichende Antwort auf globale Herausforderungen


Aktionismus ist eine typische politische Reaktion auf Krisen. Politiker*innen greifen oft zu

schnellen, sichtbaren Maßnahmen, um Handlungsfähigkeit zu demonstrieren – besonders in der Migrationspolitik. Doch solche Maßnahmen sind selten nachhaltig. Sie vermitteln lediglich das Gefühl, dass das Problem unter Kontrolle sei, verhindern jedoch eine tiefere Auseinandersetzung mit den zugrunde liegenden Fragen.


Ein Beispiel hierfür ist die Verschärfung von Grenzkontrollen, die häufig als Maßnahme gegen „illegale“ Migration gerechtfertigt wird. Doch diese Maßnahmen lösen nicht die Ursachen von Migration, sondern schaffen neue Probleme. Menschen, die vor Krieg, Armut oder Verfolgung fliehen, lassen sich durch Zäune oder Gesetze nicht aufhalten. Stattdessen führen diese Maßnahmen zu humanitären Krisen an den Grenzen und kriminalisieren Migration, ohne die strukturellen Ursachen anzugehen, die Menschen zur Flucht zwingen.


In meiner Arbeit als Coach habe ich ähnliche Muster bei persönlichen Krisen beobachtet: Menschen greifen zu schnellen Lösungen, um das Gefühl der Kontrolle zurückzugewinnen. Doch langfristige Lösungen entstehen erst, wenn wir uns die Zeit nehmen, die tieferliegenden Ursachen zu verstehen und anzugehen. Die gleichen Prinzipien gelten auch in der Politik.


Machtverhältnisse und Marginalisierung


Ein weiteres zentrales Thema in der Migrationsdebatte ist die Frage der Macht. Wer hat die Macht, über das Leben von Migrant*innen zu entscheiden? Wer definiert die Regeln, nach denen sie leben sollen? In den meisten Fällen sind es die aufnehmenden Gesellschaften, die diese Entscheidungen treffen. Migrant*innen haben oft wenig Einfluss auf die Prozesse, die ihr Leben betreffen.


Der französische Philosoph Jacques Derrida stellte fest, dass wahre Demokratie nur möglich ist, wenn wir die „Gastfreundschaft“ radikal neu denken. Gastfreundschaft bedeutet für Derrida nicht nur die Aufnahme des Fremden, sondern auch eine grundlegende Bereitschaft, Macht zu teilen und die Regeln des Zusammenlebens ständig zu hinterfragen. In der Migrationspolitik heißt das, dass Migrant*innen nicht nur Subjekte von Entscheidungen sein sollten, sondern aktiv an den Prozessen

beteiligt werden müssen, die ihr Leben bestimmen.


Machtverhältnisse sind auch im globalen Kontext entscheidend. In einer globalisierten Welt haben einige wenige Staaten und Akteure die Macht, über das Leben von Millionen von Menschen zu entscheiden – sei es durch politische Entscheidungen, wirtschaftliche Abkommen oder militärische Interventionen. Die ungleiche Verteilung von Macht führt dazu, dass die Stimmen der Marginalisierten oft ungehört bleiben, während die Interessen der Mächtigen im Vordergrund stehen.


Verantwortung und Solidarität: Eine nachhaltige Zukunft


Die Migrationsdebatte ist nicht nur eine politische oder rechtliche Frage, sondern auch eine

ethische. Wir müssen uns fragen: Welche Verantwortung haben wir als Gesellschaften gegenüber Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen müssen? Verantwortung bedeutet nicht nur, auf unmittelbare Krisen zu reagieren, sondern auch langfristige Lösungen zu entwickeln, die auf Gerechtigkeit und Inklusion basieren.


Die Philosophin Hannah Arendt sprach von der „Bürde der Verantwortung“, die jeder Einzelne und jede Gesellschaft gegenüber den „Anderen“ trägt. Diese Verantwortung verlangt, dass wir die Strukturen, die Migration hervorrufen, hinterfragen und verändern. Solidarität bedeutet, nicht nur die Rechte von Migrant*innen anzuerkennen, sondern aktiv daran zu arbeiten, eine Gesellschaft zu schaffen, die für alle Menschen lebenswert ist.


Solidarität kann jedoch nicht bloß national gedacht werden. In einer globalisierten Welt sind wir alle miteinander verbunden. Die Klimakrise, Kriege und wirtschaftliche Ungleichheit sind globale Probleme, die globale Antworten erfordern. Migration ist ein Symptom tieferliegender globaler Ungerechtigkeiten, und die Lösung dieser Probleme kann nur durch internationale Zusammenarbeit erfolgen, die auf Solidarität und Verantwortung basiert.

Kontrolle, Rassismus und gesellschaftliche Dynamiken: Warum Aktionismus keine nachhaltige Antwort auf Migration ist

Der Weg zu nachhaltigen Lösungen


Kontrolle und Aktionismus bieten nur kurzfristige Antworten auf tiefgreifende, strukturelle

Herausforderungen. Um eine gerechte und inklusive Gesellschaft zu schaffen, müssen wir die tieferliegenden Fragen von Macht, Rassismus und globaler Verantwortung angehen. Eine

nachhaltige Lösung der Migrationsproblematik erfordert einen Paradigmenwechsel: weg von der Kontrolle und hin zu einem Verständnis von zukunftsgerichteter Solidarität und Verantwortung, das über nationale Grenzen hinausgeht.


Nur durch eine Neuausrichtung unserer Machtverhältnisse und die konsequente Bekämpfung von Rassismus können wir eine Zukunft gestalten, in der alle Menschen – unabhängig von ihrer Herkunft oder ihrem Status – gleichberechtigt leben können. Die Zukunft der Migrationspolitik liegt nicht in der Abwehr des Fremden, sondern in der Anerkennung unserer globalen Verflechtungen und der gemeinsamen Verantwortung für eine diversitätssensible und diskriminierungskritische Welt.


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